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Kirsten Hinkler, Marc Hartmann: Frau Bengali

 

Der Blick dahinter

Kinder sehen Sachen, die wir nicht mehr wahrnehmen. Sie filtern Geschehnisse und Personen anders als wir. Verbindungen entstehen zwischen Dingen, die für uns ohne Zusammenhang sind. Kirsten Hinkler und Marc Hartmann gehen solchen Bildern, die Kinder von Personen oder Ereignissen haben, in Frau Bengali vorsichtig auf den Grund. Was ist das, das wir »Aura« oder »Seele« nennen würden. Ist es fassbar? Hat es jeder? Frau Bengali hat es, das ist mal klar.

Wieder gelingt es Harmann und Hinkler, mittels ihrer zarten Kunst den Seelenbildern der Kinder zu folgen. Ein kleiner Junge ist fasziniert von seiner Nachbarin, Frau Bengali, die offenbar aus Indien stammt und bunte Tücher trägt. Fauna und Flora Indiens sind auf dem Tuch abgebildet und für den Jungen entwickeln die Muster ein wunderbares Eigenleben. In Gesprächen mit Frau Bengali sinniert er über die Dinge, die auf dem Tuch abgebildet sind. Indien wird zum Faszinosum.

Sinnesrausch für Betrachter und Zuhörer

Ganz klar dominieren die wunderbaren Bilder dieses Buch, das die Fantasie Kapriolen schlägen lässt. Das soll sie auch, denn auch den kleinen Jungen verfolgt das farbintensive Chaos bis in den Traum. Tiger und Affen erwachen zum Leben und Frau Bengali scheint ohne Angst neben ihnen zu existieren. Frau Bengali erzählt von ihrer Kindheit in Indien und Gerüche, Geräusche und Verkehrschaos erwachen zum Leben und verwirren den kleinen Jungen.

Die Verwirrung wächst sich zu einer ausgemachten Sinnestäuschung aus – oder ist doch alles real? Tatsächlich scheint Frau Bengali von ihrem Heimatdschungel umgeben zu sein, denn sprang da nicht ein Äffchen neben ihr ins Gebüsch? Während der kleine Junge noch grübelt, bleibt Frau Bengalis Tuch hängen und verschwindet. Doch Frau Bengali scheint nicht traurig zu sein und sie erklärt ihrem kleinen Zuhörer, dass ihr Dschungel immer um sie sei.

Die Geschichte um uns

Tatsächlich, wenn der kleine Junge genau hinblickt, sieht er den Tiger neben Frau Bengali, über ihr im Baum schwingt sich ein Äffchen von Ast zu Ast und fremdartiges Vogelgezwitscher dringt an sein Ohr. Frau Bengalis Tuch war um sie herum. Doch nicht nur das. Goldene Türme glitzern in der Ferne, die Luft beginnt, anders zu riechen und der Straßenlärm wird lauter. Indien ist um Frau Bengali herum.

Der Orient ist faszinierend, doch was ist mit uns? Der kleine Junge läuft heim und sieht sich im Spiegel an. Was ist um ihn herum? Hinklers und Hartmanns Botschaft ist so einfach wie berührend. Unsere Geschichte prägt uns. Natürlich hat der kleine Junge keinen Dschungel um sich, doch das Muschelglas ruft viele Erinnerungen, Düfte und Bilder in ihm wach. Er trägt seine Geschichten um sich – das Meer, die Aufenthalte mit den Eltern dort, Gerüche und Geräusche. Wie Frau Bengali und doch anders. In wundervollen Bildern erinnern uns Hinkler und Hartmann daran, wie wichtig es ist, zu wissen, woher man stammt und wie die eigene Geschichte uns geprägt hat. Damit man zu sich finden kann unsere Bilder uns umgeben. Wie wunderschön.

Titelangaben:

Kirsten Hinkler, Marc Hartmann: Frau Bengali

Berlin: Waldhuhn-Verlag, 2014. 48 Seiten. 16,95 EUR.

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