Archiv für den Monat: März 2020

Neu Gelesen

Claudio Del Principe: A Casa. Gut kochen. Besser essen. Jeden Tag.

Leila Lindholm: Meine Rezepte für die ganze Familie.

Joanna Gaines: Magnolia Table.

Gemeinsam sind wir unterschiedlich

 

Es ist unheimlich, in diesen Tagen Rezensionen für Kochbücher zu schreiben. Allen, die mich für wahnsinnig halten, kann ich begegnen: Es ist wahnsinnig. Die Welt fliegt uns um die Ohren. Und ich sollte nicht schreiben müssen, was ich nun sage. Dass die Welt, wie wir sie kennen, schon lange nicht mehr existiert. Dass in diesem Szenario ein Virus nur ein Teil ist. Klimawandel und Globalisierung sind ein weiterer Teil. Deshalb schreiben Autoren wie Claudio Del Principe, Leila Lindholm und Joanna Gaines Bücher vom idyllischen Leben mit Selbstgekochten. Deshalb verschlingen wir Leser Bücher wie A Casa, Meine Rezepte für die ganze Familie oder Magnolia Table.

Wir verstehen die Welt nicht mehr. Alle sind hilflos. Es ist die Umkehrung aller Werte. Schon verrückt, wie bewusst uns plötzlich wird, welch beeindruckende Arbeit VerkäuferInnen, KrankenpflegerInnen, Ärzte und Ärztinnen und ZustellerInnen leisten. Schämen wir uns ruhig. Vergessene Berufe gelangen neu ins Bewusstsein. Die Leistung dieser Menschen ist unglaublich. Nichts passt mehr, Wohlstand und Reichtum wirken obszön.

Sehnsucht nach dem Guten

Es ist die Sehnsucht nach dem Glück der Kindheit, verbunden mit Geschmäckern, Düften und Gerüchen, die Menschen immer wieder in die Küche treibt. Liebe geht durch den Magen, auch die Selbstliebe. Das ungewöhnlichste der drei Kochbücher ist jenes von Claudio Del Principe, einem Schweizer Blogger mit einer ungebrochenen Leidenschaft für gutes Essen, der seinen Blog in Buchform herausgegeben hat.

 

Darin geht es um eben jenes gute Essen, das Zeit und Weile und Zuwendung braucht, dann aber auch unschlagbar gut schmeckt. Er hütet seine Mutterhefe wie ein neugeborenes Baby, wenn er Pasta macht, gerät er in Verzückung. Es sind nicht einmal die Rezepte, die das Lesevergnügen bestimmen, sondern die unverkennbare Leidenschaft für gutes Essen, die aus jeder Buchseite spricht. Claudio Del Principe ist ein Glückspilz, er kann seine Leidenschaft zum Beruf machen und sich jede Zeit der Welt dafür nehmen. Wir anderen sollten uns von diesem Glück waghalsig etwas stehlen.

Gutes für alle

Leila Lindholm hat wie Claudio Del Principe zwei Kinder. Wie er möchte sie für ihre Familie gut kochen. Dabei passt sie sich viel mehr dem aktuellen Lifestyle an. Sie hat damit ein eher klassisches Kochbuch verfasst, dass mit seinen schönen Bildern vom Bullerbü Leben der Familie verführt. Das Tolle am Buch: Kleine Fähnchen kennzeichnen die Rezepte, falls sie glutenfrei, laktosefrei, vegetarisch, ohne Nüsse oder vegan etc. sind.

Damit findet jeder, was ihm schmeckt. Gerade in großen Familien geht es oft genau darum. Selten habe ich Tage, an denen ich etwas koche, das allen schmeckt. Typischerweise habe ich in meiner Familie eine Vegetarierin, einen Karnivoren, eine Laktoseintolerante, einen, der nichts Süßes mag und so weiter.  Meistens gibt es so eine Art Modulessen, die Reste der Vortage bilden mit Frischgekochtem ein buntes Buffet an Leckereien. Dank Lindholm kann ich jetzt glutenfreie Bananenpfannkuchen, Chia – Knuspermüslis, Scones und selbstgemachten Mandelaufstrich zum Frühstück kredenzen.

Küstenessen

Gefühlt gibt es viel Fisch bei Leila Lindholm, eine Spezialität, die ich aus Bayern außerhalb der Forelle kaum kenne. Gut für alle, die in Küstennähe wohnen! Aber auch viele Thai- und Vietnamesische Gerichte mit und ohne Fleisch erinnern daran, dass auch Kinder gerne trendig essen. Lindholm macht weniger selbst als Claudio Del Principe, aber auch bei ihr wird fast alles von Hand gekocht. Das gefällt mir gut, ich bin der festen Überzeugung, dass jedes selbst gekochte Essen noch einmal besser schmeckt.

Dabei scheut sie nicht vor außergewöhnlichen Rezepten, wie z.B. Wassermelonenpizza oder Carpaccio von roten Beten zurück. Zwischendurch plaudert sie aus dem Nähkästchen und betont, wie wichtig es ist, dass Biolebensmittel gekauft werden. Manchmal habe ich das Gefühl, dass dies schon fast reflexhaft geschieht, vor allem vor Fleisch- und Fischgerichten. Dabei muss sie sich nicht dafür entschuldigen, dass sie kein rein vegetarisches Kochbuch geschrieben hat.

South American Life Style

Joanna Gaines, die mit ihrem Mann Chip das Lifestyle Restaurant Magnolia in Waco, Texas betreibt, teilt in diesem Kochbuch Lieblingsrezepte ihrer Großfamilie. Der Riesenvorteil an den Rezepten ist natürlich, dass sie alle nicht nur großfamilientauglich sind, sondern meisten, wie Scones, Tacos oder Burger, auch beliebt. Mich alte Selbermacherin stört tatsächlich, dass Gaines dabei oft auf Fertigteige oder Fertigsaucen zurückgreift. Ich weiß, dass Brotbacken in den Vereinigten Staaten keine große Tradition hat, aber Pizza….

 

Dafür habe ich endlich ein Rezept für grüne Tomaten. Wer wie ich das Buch  in den 90ern gelesen hat, wird begeistert sein. Das Kochbuch strotzt vor Rezepten aus dem amerikanischen Süden, gespickt mit asiatischen Einschlägen. Ein Meltingpot, wie er im Buche steht. Nicht immer habe ich Chancen, an alle Zutaten zu gelangen, z.B. an die „Himbeer-Chipotle-Sauce“, was immer das auch sein mag. Dafür gibt es gerade im Dessert -Teil viele Rezepte mit Hand und Fuß, die um Nachahmung flehen. Fudge- Sauce, Schokoladen-Cola -Kuchen (die Traumkombi meiner Jungs) und Brotpudding sind schon gesetzt. Guten Appetit!

 

Titelangaben:

Claudio Del Principe: A Casa. Gut kochen. Besser essen. Jeden Tag.

Aarau: AT-Verlag, 2017. 320 Seiten, 39,90€.

Leila Lindholm: Meine Rezepte für die ganze Familie.

Köln: Fackelträger Verlag, 2016. 240 Seiten, 9, 99€.

Joanna Gaines: Magnolia Table.

Kandern: Unimedica Verlag, 2019. 344 Seiten. 29,90€.

 

 

Pause

Plötzlich ist alles anders. Und ich habe eine kurze Pause und Zeit, Dinge zu fotografieren. Während das soziale und öffentliche Leben pausiert, geschieht zuhause so viel. Ich möchte die Zeit nutzen, für uns alle. Wie macht Ihr das?

Viele Körbe standen in der Ecke und warteten darauf, fertig geflochten zu werden. Heute habe ich den ersten davon beendet.

Bei meinen Kindern ist von heute auf morgen Homeschooling angesagt. Es war nicht ganz einfach, ihnen zu erklären, dass sie trotz Schulausfall lernen müssen. Auch ich muss das und hab heute schon ein paar Stunden gearbeitet.

Noch gibt es keine Ausgangssperre. Ich nutze die Zeit und fahre mit den Kindern zur Obstwiese. Die Bäume werden endlich geschnitten, mein Dritter konnte seinen ersten dicken Ast absägen und ist unglaublich stolz. Welch ein Segen, dass wir nach draußen können.

Geburtstage feiern wir dieses Jahr wohl anders, die großen kirchlichen Feiern meiner Ältesten und meines Jüngsten entfallen. Ob ich die Altarkerze, die ich im Auftrag angefertigt und entworfen habe, überhaupt verkaufen kann? Nichts bleibt, wie es ist.

Neu Gelesen

Philipp Blom: Bei Sturm am Meer.

 

Flaute in der Seele

Was geschieht, wenn eine intensiv gelebte Existenz sich mit einem Mal in Rauch auflöst und erlischt? Philipp Blom erzählt in Bei Sturm am Meer von vertanen Chancen, Lebenslügen und Sackgassen, in die sich Ben, Marketingspezialist in der Wiener Museenlandschaft, laufend hineinmanövriert. Zwischen Vätern, die keine sind und solchen, die keine werden, laviert sich der schlaffe Protagonist durch sein vergeudetes Leben. VIOLA STOCKER betrachtet ein Feuer, das in sich erstickt.

Ben kommt nach Amsterdam, um der Urnenbeisetzung seiner Mutter Marlene beizuwohnen. Die Inhaberin eines Kunstbuchhandels war nach langer Krankheit verstorben, am Grab trifft er eine für ihn unbekannte ältere Dame. Eine Begegnung, die eine Lawine an Geschehnissen auslöst, in deren Verlauf sein Leben auf den Kopf gestellt wird. Die folgenden Ereignisse protokolliert er für seinen Sohn Sascha.

Ein Leben in Unaufrichtigkeit

Philipp Blom konstruiert ein Netzwerk an Existenzen, die sich alle durch grundlegende Unaufrichtigkeit auszeichnen. Bens Brief an seinen vierjährigen Sohn, den er ihm erst in vierzig Jahren zukommen lassen will, soll als roter Faden durch die Erzählung führen und dient dem Protagonisten gleichzeitig als Rechtfertigung für das eigene Versagen. Denn das ist es.

Ben lernt seinen Vater nie kennen. Der gefeierte Hamburger Journalist ist für eine Recherche in Südamerika unterwegs und verschwindet spurlos während dortiger politischer Unruhen. In Deutschland wird er bald für tot erklärt. Bens Mutter erzählt ihrem Sohn die Geschichte des unerschrockenen Helden, an der der junge Ben selbst scheitern muss. Doch Bloms Gespinst umfasst noch mehr Personen und Schicksale.

Lebenslang verstrickt

Bens Mutter Marlene ist das Kind einer schönen, alleinerziehenden Hamburger Büroangestellten, die Zeit ihres Lebens von Ruhm und Reichtum träumt und doch einen faden Amsterdamer Privatier heiratet, um der unehelichen Tochter ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Unmengen an Make-Up, Alkohol und eine Affäre mit dem benachbarten Künstler können Großmutter Elly nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr Leben verpfuscht ist.

Marlene ihrerseits zeigt sich nicht in der Lage, den Anforderungen der gescheiterten Mutter zu entsprechen. Die schöne junge Frau beginnt ein Studium, das sie nie abschließt, weil sie Bens Vater Henk aus Hamburg kennenlernt, der wild und freiheitsliebend ist und der extremen Linken in Deutschland nahesteht. Sie wiederholt den Fehler ihrer Mutter, wird schwanger und heiratet Henk.

Brüche und Kollagen

Bloms Roman spielt in intellektuellen Zirkeln Hamburgs, Amsterdams und Wiens. Kollagenhaft überlagern sich oft die Eindrücke, zusammengehalten vom Brief an den Sohn, der ihn jetzt noch nicht verstehen kann. Gescheiterte Beziehungen wollen erlernt sein, scheint Blom zu sagen, denn Ben, dessen Ehe mit der distanzierten Wissenschaftlerin Xenia längst erkaltet ist, begeht den gleichen Fehler wie die Frauen seiner Familie.

Er begibt sich in ein Netz aus Lügen und verzweifelten Brüchen. Am Grab seiner Mutter lernt er Clara kennen und erfährt, dass sein Vater lebt. Alt und dement, ganz in der Nähe. Bens Welt bricht zusammen, seine Mutter hatte ihn angelogen, um ihre eigene Bitterkeit zu ersticken. Henk hatte Marlene für Clara verlassen. Seine Mutter hatte eine Festung aus Lügen errichtet, in der sie sich versteckt hatte. In einer Welt aus Illusionen war sie schließlich, ähnlich seiner Großmutter Elly, verstorben.

Es gibt kein Glück

Man wartet in diesem Roman umsonst auf den Moment, in dem der Protagonist die Lügengebilde erkennt und niederreißt. Ben entdeckt in Amsterdam ein Plakat für eine Ausstellung, auf dem er als junger Mann nackt abgebildet ist. Seine erste große Liebe, eine lokale Künstlerin, hatte es gemalt. Was für Ben einzigartig und der alleinige Zugang zur Kunst ist, entpuppt sich in der Ausstellung als nur ein Aspekt unter vielen. Ben ist nur ein Motiv, das gemalt wird, in der Galerie sind die anderen Portraits junger Männer in Schubladen verstaut, weil es ihrer zu viele gibt.

Es wäre nun der Punkt, Tabula Rasa zu machen und in Ehrlichkeit neu anzufangen. Stattdessen flüchtet Ben sich in eine neue Affäre mit der Künstlerin Rachel, sie malt ihn ein zweites Mal. Trotzdem kehrt Ben am Ende zu seinem Sohn zu zurück, mit einem Brief, den er ihm erst in vierzig Jahren geben wird, in ein Leben voller Lügen, zu einer Frau, die ihn nicht liebt, um sie vielleicht für ein Angebot aus Paris zu verlassen. Die zweite Zeichnung zeigt ihn als alternden Mann, untertitelt mit »Leichnam«.

Es stürmt nur innen

Bloms Erzählmodus bleibt lakonisch und distanziert. Bisweilen scheint die Leidenschaftslosigkeit von Bens Ehe auf den Schreibstil des Autors überzugehen. Drei Generationen einer deutschen Lüge, Flucht vor dem Selbst, wobei die sich wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingen nur Kulisse auf dieser Seelenschau sind. Die aufwändig konstruierte Story um den reisenden Journalistenvater, die bühnenverliebte Großmutter, den Ruf einer Pariser Werbeagentur, wirkt manchmal etwas sehr gewollt.

Dabei geht es um persönliches Scheitern, um ein familiäres Erbe, das man nicht einfach abstreifen kann, um die Unmöglichkeit, ein Leben in Aufrichtigkeit zu führen. Werden Beziehungen nur durch Lügen am Leben gehalten? Ben ist ein Antiheld, sein Scheitern, sein stilles sich Entfernen am Schluss des Romans hinterlässt nur Fragen, keine Antworten. Es herrscht Windstille in der Liebe.

Titelangaben:

Philipp Blom: Bei Sturm am Meer.

Wien:  Verlag Zsolnay, 2016. 224 Seiten. 20 €.