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Jidi, Ageng: Der freie Vogel fliegt.

Der schwere Gang zum Erwachsensein

Jidi und Ageng sind zwei junge Comicautorinnen aus China. In ihrer Grafic Novel Der freie Vogel fliegt setzen sie sich mit ihrer eigenen, noch nicht fernen Jugend auseinander. Lin Xiaolu ist ein junges, schüchternes Mädchen auf der Mittelschule, das erst langsam lernen muss, dass es auch eine wohlwollende Welt außerhalb der Comics gibt, mit Menschen, die sie lieben. Zwischen konfuzianischer Strenge und moderner Globalisierung ertastet sie sich ihren Weg ins Leben.

Es ist faszinierend, wie sich über die ersten drei Bände von Der freie Vogel fliegt Xiaolu zu einer jungen Frau entwickelt, die langsam aus ihrem Schneckenhaus hervor kriecht. Als Scheidungskind wurde Xiaolus Illusion von einer heilen Welt früh durch ihre Eltern zerstört. Weil sie weder ihr Schicksal ändern noch verstehen konnte, flüchtete sie sich in eine Welt aus Mangafiguren, die ihr zur Seite standen.

Modernes Teenagerschicksal

Xiaolu zieht erst zu ihren Großeltern, da nach der Scheidung ihre Mutter wieder arbeiten muss. Von dort wird sie durch ihren Vater weggeholt, sie wächst in einer ihr fremden Umgebung auf, in einer Familie, die nicht mehr die ihre ist. Ihrem strengen Vater kann sie nichts recht machen, immer mehr zieht Xiaolu sich in ihre Fantasiewelt zurück. In ihrem sozialen Umfeld gilt sie als Versager und Sonderling.

Ganz klar, die Autorinnen verarbeiten viel Autobiografisches. Jidi ist eine bekannte Autorin in China, die Auflagen ihrer Bücher sind hoch und die Romane berühmt. Mit Ageng hat sie eine Künstlerin gefunden, der es gelang, ihre Worte in passende Bilder zu fassen. Wer Xiaolu begleitet, fühlt sich in mannigfacher Weise an die eigene Jugend erinnert. Viele Kämpfe und Zweifel sind die gleichen, auch wenn Xiaolu in einem ganz anderen Kulturkreis aufwächst.

Interkulturelles Verständnis

Xiaolu muss sich mit vielem auseinandersetzen. Dass sie daran nicht zerbricht, liegt an der liebevoll gezeichneten Lichtgestalt einer mitfühlenden Mutter, die, entgegen dem gängigen Klischee, ihren schüchternen Teenager nicht unter Druck setzt. Viel an der Grafic Novel ist beispielhaft für die Kämpfe des modernen China. Unpolitisch, aber zutiefst menschlich erzählen Jidi und Ageng vom krankhaften Ehrgeiz der Eltern, erster Liebe, von der weiten Welt in einer chinesischen größeren Stadt.

Xiaolu lernt Su Yan kennen, einen rebellischen Teenager, mit dem sie sich anfreundet und schweigt über drei Bände hinweg konsequent über ihren Schwarm Han Che. In Xu Hu, einem weltoffenen Ladenbesitzer, findet sie einen wohlwollenden Freund und Mentor und eigentlich wäre ihr Leben perfekt, wenn Xiaolu nicht eine schlechte Schülerin wäre. Gerade erst, als sie beschließt, sich in der Mittelschule mehr anzustrengen, holt sie der Ernst des Lebens ein.

Zwischen allen Stühlen

Nachdem sie sich ihrer Umwelt langsam öffnet, muss sich Xiaolu auch vermehrt mit den Sorgen anderer auseinandersetzen, die oft viel schwer wiegender als ihre eigenen sind. Xiaolu ist in vielerlei Hinsicht ein schwermütiger Spätzünder und genau das erspart ihr einiges Herzeleid. Ihre fleissige Cousine Rui Rui, in welche die Familie die ganze Hoffnung setzt, nimmt sich nach gescheiterten Aufnahmeprüfungen für die Universität das Leben, für Xiaolu und ihre Mutter ein fürchterlicher Schock.

Kaum, dass sie sich mit dem Selbstmord ihrer Cousine auseinandergesetzt hat, wird ihre Freundin Xie Siyao ungewollt schwanger und der Freundeskreis trifft sich, um ihr zu helfen. Siyao wird illegal abtreiben müssen, ob und wie sie es schafft, wird Band vier der Grafic Novel vielleicht erzählen. Für Teenager sind das ernste Themen, die Ageng mit einem sehr feinen und kindlichen Pinselstrich verdeutlicht. Vorwiegend in Pastelltönen gehalten und detailliert gemalt, wird der Leser von Anfang an hineingezogen in Xiaolus Welt. Ich bin gespannt, wie es mit ihr weitergehen wird.

Titelangaben:

Jidi, Ageng: Der freie Vogel fliegt.

Aus dem Chinesischen von Martina Hasse. Zweisprachige Ausgabe.

Uitikon-Waldegg: Chinabooks, 2018. 288 Seiten. 24,90 EUR.

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